Revolution oder Neuerfindung

Gadaunerer Hochalm, bis vor kurzem bewohnte Almhütte mit Rauchkuchl. Gustav Lepka in der Performance Herde und Stall, Juni 2019, Gastein.


"Europäer streben nur noch nach Komfort und Sicherheit. Also nach Faulheit"

Rem Koolhaas ist eigentlich Architekt. Doch inzwischen plant er die Zukunft ganzer Länder. Ein Gespräch über die Grenzen der Demokratie, den weltfremden Hochmut des Westens – und was sein alter BMW damit zu tun hat

Interview: Götz Hamann und Tobias Timm

Aus der ZEIT Nr. 25/2024 Aktualisiert am 8. Juni 2024, 19:24 Uhr


DIE ZEIT: Herr Koolhaas, Sie sind einer der einflussreichsten Architekten des 20. und 21. Jahrhunderts. Sie haben in verschiedenen Ländern gelebt, arbeiten an Projekten überall auf dem Globus. Deshalb möchten wir mit Ihnen über den Zustand Europas und der Welt sprechen.

Rem Koolhaas: Können wir bitte alles Pompöse beiseitelassen? Ich kann keine heiligen Wahrheiten verkünden, allenfalls Eindrücke und Gedanken schildern.


ZEIT: Müssen die Städte in die Breite oder in die Höhe wachsen?

Koolhaas: Es geht nicht um die Frage: Hochhäuser oder niedrige Bebauung. Die Expansion unseres privaten Wohnraums ist das Problem. Die Zahl der Bewohner pro Haushalt hat sich in den vergangenen 60 Jahren beinahe halbiert, die Mehrheit in unseren Städten wohnt inzwischen allein. Solange das nicht infrage gestellt wird, müssen wir entweder mehr bauen oder weiter mit dem Problem leben.

ZEIT: Soll man die Menschen zwingen, zu viert in einer Wohnung zu leben?

Koolhaas: Es ist wie mit der Autoproduktion: Die Umstellung auf größere SUV-Modelle kostet so viel Energie, dass der positive Effekt durch die Einführung von Elektromotoren komplett eliminiert wird. Das ist Irrsinn! Die Politik muss solche Exzesse verhindern.

ZEIT: Apropos: Fahren Sie immer noch Ihren BMW aus den Neunzigerjahren?

Koolhaas: Ja, einen BMW 840, ein relativ kleines Auto. Ich habe schon die 500.000 Kilometer geschafft.

ZEIT: Sie denken nicht nur über Städte nach, sondern auch über das Land. Countryside hieß Ihre Ausstellung 2020 im Guggenheim Museum in New York, bald soll eine zweite Ausstellung zum Thema in Katar folgen. Was hat Sie dazu inspiriert?

Koolhaas: Die Familie meiner Partnerin hat ein Haus auf dem Land in der Schweiz, irgendwann bemerkte ich bei einem Besuch dort, dass die Kühe verschwunden waren. Es roch plötzlich anders. Ich hatte eine Art von Offenbarung: Alles typisch Ländliche war verschwunden. Einerseits schrumpft die Bevölkerung auf dem Land immer stärker, andererseits wird der ländliche Raum mit Gebilden zugestellt, die nicht mehr in die Städte passen, aber nötig sind, um das Leben im urbanen Raum aufrechtzuhalten.

ZEIT: Was ist das Ziel Ihrer Überlegungen?

Koolhaas: Ich stelle infrage, ob die Annahme richtig ist, dass in einigen Jahrzehnten rund 80 Prozent der Weltbevölkerung in Städten leben werden. Ich frage mich, ob wir eine andere Balance finden und wie diese aussehen könnte. Im nächsten Jahr werden wir in Katar erste Ergebnisse ausstellen.

ZEIT: In dem Katalog zur ersten Countryside-Ausstellung listen Sie im letzten Kapitel ausschließlich Fragen auf. Dürfen wir Ihnen einige Ihrer damaligen Fragen stellen?

Koolhaas: Klar.

ZEIT: Wo sind die Kühe geblieben?

Koolhaas: Die Kühe gibt es noch, aber sie sind nicht mehr sichtbar. Viele leben nur noch in Ställen, und die Ställe sind an die Ränder der Dörfer verlegt worden.

ZEIT: Ist es wichtig, einmal im Leben die Zitze einer Kuh berührt zu haben?

Koolhaas: Wenn Sie mich fragen, ob mein Enkel diese Erfahrung machen soll: Ja!

ZEIT: Hatten die Hippies recht?

Koolhaas: Die Hippies hatten in vielerlei Hinsicht recht.

ZEIT: Waren Sie selbst ein Hippie?

Koolhaas: Nein! 1968 musste man sich entscheiden, entweder war man ein Dandy, wie in den Filmen von Michelangelo Antonioni, oder man war ein Hippie. Ich war eher ein Dandy, trug Anzüge und Krawatten. Es war eine Wahl zwischen dem apollinischen Ideal und dem dionysischen. (lacht)

ZEIT: Sind Sie immer noch der apollinische Typ?

Koolhaas: Na ja, ich habe sehr viel Sympathie fürs Dionysische.

ZEIT: Noch eine letzte Ihrer eigenen Fragen: War die Menschheit früher besser?

Koolhaas: Wahrscheinlich nicht.

ZEIT: Sie sagten einmal, dass die globalisierten Gesellschaften nach drei wesentlichen Dingen streben: Nachhaltigkeit, Komfort und Sicherheit. Ist das noch immer so?

Koolhaas: Ich wollte damals vor allem jene Europäer kritisieren, die nicht mehr den Idealen der Französischen Revolution verpflichtet sind, sondern systematisch nur noch nach Komfort und Sicherheit streben. Also nach Faulheit. Sie mobilisieren enorme Mengen von Geld und politischem Kapital für etwas Nutzloses. Fast alle Ideen von smarten Häusern, smarten Städten, smarten Telefonen sollen zu mehr Komfort und Sicherheit führen. Zu mehr von dem, was wir nicht brauchen.

ZEIT: Brauchen die Europäer nach Ihrer Logik deshalb eine neue Revolution?

Koolhaas: Das Wort Revolution ist sehr altmodisch, das werden Sie aus meinem Mund nicht hören. Aber wir brauchen eine Neuerfindung.


Gadaunerer Hochalm, Gastein. Barbara Földesi und Nefeli Kadinopoulou-Asteriou mit Geißen und Hühnern des Projekts Herde und Stall 2019.


Im Sommer 2019 zog Lawine Torrèn (4 Darstellerinnen, 4 Ziegen, 3 Hühner, 2 meiner Söhne und ich) in eine verfallende Almhütte in Gastein. Die dabei entstandene Performance Herde und Stall verhandelt die Beziehungskoordinaten Stadt/Land, Mensch/Tier, Hochtechnologie/Behausung als Feldversuch.

Das voranstehende - gekürzte - Interview mit Rem Koolhaas in der ZEIT hat einen starken Bezug dazu.
(Hubert Lepka)

hubert lepka